Geschichtslektion in Buchenwald

Wie wichtig ist der Besuch einer KZ-Gedenkstätte für Jugendliche? Sollten die Besuche von ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nazis für alle Schulen verpflichtend sein?

Anlässlich des Holocaust-Gedenktags am 27. Januar hat sich der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, noch einmal für verbindliche Gedenkstättenbesuche für Schulklassen ausgesprochen, denn er hält „die Erinnerungsarbeit in der Schule und den Besuch authentischer Orte“ für das Entscheidende bei der Vermittlung historischen Bewusstseins.

Dass der Besuch einer Gedenkstätte bei Schüler*innen viel bewirken und zugleich die Aktualität des Themas Faschismus in Deutschland erschreckend deutlich aufzeigen kann, haben die fünf Klassen des Jahrgangs 9 der Lippetalschule bei ihrem Aufenthalt in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald, eines der größten Konzentrationslager auf deutschem Boden, vom 5. bis 7. Februar erfahren.

Zwischen Juli 1937 und dem 11. April 1945 waren etwa 266.000 Menschen aus ganz Europa im Lager Buchenwald inhaftiert, mussten Zwangsarbeit verrichten, sind erfroren, verhungert oder an Erschöpfung gestorben, wurden gequält und ermordet. Die Zahl der Todesopfer wird von Historikern auf 56.000 geschätzt.

Nach einem Film mit Aussagen von Überlebenden sowie Film- und Fotoaufnahmen aus dem KZ, die eine Ahnung der unfassbaren Grausamkeiten der SS-Wachmannschaften und des Leidens der Inhaftierten vermitteln, wurden die Schüler*innen klassenweise durch die Gedenkstätte geführt. Die gut geschulten Begleiter erklärten Struktur und Aufbau des KZ und seine Beziehung zu Weimar und seiner Bevölkerung. Niemand in Weimar, so betonte unser Begleiter, könne angesichts der engen geschäftlichen Beziehungen und der Präsenz von ausgemergelten KZ-Zwangsarbeitern in der Stadt behaupten, die Bevölkerung habe nichts davon gewusst. Zahlreiche Firmen der Umgebung haben von der Zwangsarbeit profitiert.

Ein Modellnachbau des KZ machte die schiere Größe vorstellbar, denn auf dem Gelände selbst sind nur wenige Gebäude erhalten. Darunter befindet sich allerdings ein Bau, der für große Erschütterung sorgt. In ihm befinden sich die Verbrennungsöfen, ein Keller mit Haken an den Wänden, in dem Menschen gefoltert und ermordet wurden sowie der Nachbau der Genickschussanlage, mit der Tausende sowjetischer Kriegsgefangener nach dem sogenannten Kommissarbefehl (Juni 1941) erschossen wurden. Für Fassungslosigkeit sorgte auch ein Aufenthalt an dem früher mit 380 Volt geladenen, todbringenden Stacheldrahtzaun, auf dessen einer Seite die Gefangenen litten und starben, während auf der anderen Seite SS-Männer mit ihren Familien einen eignes für sie angelegten Tierpark besuchten.

Selbst an diesem Ort anwesend zu sein, wo so viele Menschen von den Nazis auf brutalste Art gequält, ermordet und schließlich verbrannt worden sind, löst ein Entsetzen aus, das durch historische Fakten und auch Foto- oder Filmdokumente allein nicht zu vermitteln ist. Viele unserer Schüler*innen hatten Tränen in den Augen und konnten diesen Ort absoluter Unmenschlichkeit kaum ertragen, aber sie wussten, dass nur wer diese tiefe Betroffenheit erlebt, auch alles dafür tun wird, dass so etwas nie wieder geschieht. Es waren schwere, aber auch besondere Momente für diese Jugendlichen, die sich anschließend noch in kleinen Gruppen über das Gelände bewegten oder um die Gedenkplatte versammelten, auf die die Namen aller Nationen eingraviert sind, aus denen die Gefangenen kamen und die das ganze Jahr auf etwa 37 Grad, die Körpertemperatur des Menschen, geheizt ist, um Wärme an diesem Ort der Kälte auszustrahlen. Dabei fiel auf, dass, so wie auch zuvor, keine Ermahnungen nötig waren, da alle den Ernst dieses Ortes begriffen hatten.

Wie erschreckend aktuell das Thema auch 75 Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft noch ist, wurde in einer Geschichtslektion deutlich, mit der keiner gerechnet hatte: Während unseres Aufenthalts in der Gedenkstätte wurde unweit davon im Thüringer Landtag ein Ministerpräsident mit den Stimmen der AfD gewählt, und zwar von jener Fraktion, die von dem gerichtsfest als faschistisch zu bezeichnenden Vorsitzenden Björn Höcke angeführt wird. Dass ein solcher Vorgang, der Ausdruck einer seit längerem zu beobachtenden gesellschaftspolitischen Entwicklung ist, in demselben Thüringen möglich ist, in dem die NSDAP ihre ersten großen Erfolge verzeichnete, löste nicht nur bei Lehrkräften Reaktionen wie Schock oder Erschrecken aus, sondern auch unsere Schüler*innen verstanden, warum das Erinnern an die Gräueltaten der Nazis nicht nachlassen darf. Denn, wie der Auschwitz-Überlebende Primo Levi sagte: „Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen.“

In späteren Gesprächen mit den Schüler*innen wurde deutlich, dass diese ein sehr viel tieferes Verständnis der Nazizeit und ihrer Konsequenzen bis heute erlangt haben.

Doch auch die Weimarer Klassik, die Epoche also, während der Goethe und Schiller das kulturelle Leben Weimars prägten, war Thema dieser Fahrt. Während einer Stadtführung am nächsten Tag konnten die Schüler*innen verschiedene Bauten und Denkmäler bewundern, die Zeugnis dieser Geistesgrößen ablegen.

Um noch einmal auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen: Im Fall der Lippetalschule ist die Fahrt nach Buchenwald und der anschließende Aufenthalt in Weimar bereits seit 3 Jahren für die neunte Jahrgangsstufe fest im Fahrtenprogramm der Schule verankert. Wie wichtig diese Beschäftigung mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte für alle Jugendlichen ist, haben nicht zuletzt die bestürzenden Ereignisse in Thüringen gezeigt.

9.2.2020 Elisabeth Umezulike